Jahrestreffen der Stiftung Marktwirtschaft 2024
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In seiner Begrüßung verwies der Vorsitzende des Stiftungsrates, Prof. Dr. Theo Siegert, darauf, dass ihn die aktuelle Situation an das Jahr 1982 erinnere, in dem der Kronberger Kreis und die Stiftung Marktwirtschaft gegründet wurden: „Eine Regierungskoalition vor dem Bruch, Wirtschaftskrise, gesellschaftliches Unwohlsein und geopolitische Spannungen, wie wir sie lange nicht erlebt haben. Unser Gründungsimpuls ‚Mehr Mut zum Markt‘ ist demnach gerade heute besonders wichtig und ich danke allen, die unser Wirken für Freiheit, Verantwortung und Wettbewerb möglich machen.“
Nach Berichten aus der Stiftungsarbeit und dem Kronberger Kreis stellte der Vorsitzende des Kuratoriums, Franz Peter Falke, den Ehrengast des Abends, Prof. Dr. Stephan Harbarth, LL.M. (Yale), vor. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts betonte in seiner Rede, dass es in einer Phase zunehmender gesellschaftlicher Fliehkräfte darauf ankomme, sich die zentralen Weichenstellungen des Grundgesetzes, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt entscheidend seien, bewusst zu machen: „Die Rede ist vom Sozialstaat, und zwar in dem Bewusstsein, dass dieser nicht aus sich selbst heraus funktionieren kann, sondern immer einer ökonomischen Grundlage bedarf.“
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Das Sozialstaatsprinzip verlange staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung eingeschränkt seien. Zwar sei dieser Auftrag verfassungsrechtlich verbürgt, jedoch nicht konkretisiert: Letztendlich unterliege die Ausprägung der sozialen Leistungsansprüche auch der volkswirtschaftlichen Leistungskraft. Aus dem Sozialstaatsprinzip allein könne der Einzelne grundsätzlich keine unmittelbaren Ansprüche ableiten, führte der Jurist aus. Das Sozialstaatsprinzip sei in besonderer Weise zukunftsoffen, da sich die sozialen Verhältnisse, Herausforderungen, Ideen und Erfahrungen stetig änderten.
Die Ausgestaltung sozialstaatlicher Leistungen obliege dem Gesetzgeber. Dieser müsse dabei jedoch die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums berücksichtigen, welches nicht nur die physische, sondern auch die sozio-kulturelle Existenz umfasse. Gleichzeitig gelte der Nachranggrundsatz, nach dem Eigenverantwortung Vorrang vor staatlicher Fürsorge habe. Öffentliche Mittel dürften nur bei wirklicher Bedürftigkeit in Anspruch genommen werden. Dabei sei es auch ein Aspekt, die begrenzten finanziellen Ressourcen des Staates zu schonen, um künftige Gestaltungsmacht zu sichern. Zudem hingen Bestand und Funktionieren der staatlichen Solidargemeinschaft wesentlich von der Akzeptanz derjenigen ab, die die materiellen Voraussetzungen des staatlichen Fürsorgesystems erwirtschafteten. Darüber hinaus bestünden gesetzliche Mitwirkungspflichten, sodass der Staat von Leistungsempfängern verlangen dürfe, dass diese aktiv an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit mitwirken oder diese erst gar nicht eintreten lassen. Da solche Mitwirkungspflichten jedoch die Handlungsfreiheit der Betroffenen einschränkten, bedürften sie verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. So sei es etwa nicht zulässig, damit auf Entfaltung der Persönlichkeit des Hilfebedürftigen abzuzielen: „Dem Grundgesetz ist ein solcher Paternalismus fremd. Es gibt keine Vernunfthoheit staatlicher Organe über die Grundrechtsberechtigten“, betonte Harbarth.
Staatliche Fürsorge und Eigenverantwortung stünden demnach zwar in einem Spannungsverhältnis, schlössen sich aber nicht aus. Es sei grundsätzlich möglich, Leistungsminderungen bei Pflichtverletzungen vorzusehen, wenn diese verhältnismäßig seien. Der Staat dürfe nicht überfordern, aber er dürfe fordern und verlangen, dass diejenigen, die staatliche Mittel in Anspruch nehmen, aktiv an der Überwindung ihrer Hilfsbedürftigkeit mitwirken.
Die Entscheidung zu Harz IV zeige, wie das Sozialrecht in unserer modernen demokratischen Gesellschaft grundlegende Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit betreffe, aber in seiner Umsetzung ein kleinteiliges und hochkomplexes Stückwerk sei. „Die Leistungen des Sozialstaats entscheiden für viele Menschen darüber, ob sie sich Staat und Gesellschaft zugehörig fühlen oder abseits oder ihnen gar feindselig gegenüberstehen“, unterstrich Harbarth.
In den nächsten Jahren stünden aufgrund des demografischen Wandels und der schwierigen wirtschaftlichen Situation weitreichende Entscheidungen an, die großen Einfluss auf den Zusammenhalt der Gesellschaft haben würden. Entscheidend für das Gelingen der anstehenden Anpassungsprozesse sei auch die richtige Balance zwischen Eigenverantwortung und staatlicher Fürsorge. Hierfür bedürfe es einer gemeinsamen Anstrengung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wobei Formate wie die Jahrestagung der Stiftung Marktwirtschaft wichtige Impulse liefern könnten, schloss der Präsident des Bundesverfassungsgerichts seine Ausführungen.
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